Weiße Leinwand

Letzten Sonntag habe ich ganz spontan einen Besuch bei einer alten Dame gemacht. Wir hatten während der Pandemie immer wieder kleine Gespräche durch das Fenster. Ich habe an ihr schon immer bewundert, dass sie im hohen Alter innerlich noch so beweglich und geistig agil ist. Vielleicht liegt es daran, dass sie in ihrem Leben schon oft umgezogen ist und beruflich immer wieder neue Wege eingeschlagen hat – für eine Frau mit ihrem Geburtsjahr schon außergewöhnlich. Sie hat immer wieder einen Neuanfang gemacht und sich ein soziales Netz aufgebaut, das sie bis heute pflegt. Aus jedem Ort hat sie noch Menschen, mit denen sie regelmäßig in Kontakt steht. So kam auch am Sonntag gerade eine alte Freundin aus der Haustür, als ich ihr etwas in den Briefkasten werfen wollte. Und obwohl sie schon den ganzen Nachmittag gesprochen hatten, bat sie mich herein und wir sprachen, bis es im Zimmer auf einmal ganz dunkel war, weil wir nicht bemerkt hatten, dass die Sonne schon untergegangen war.

Sie fragte interessiert nach meinem Ergehen und nach uns als Familie. Ich erzählte davon, dass ich mein Promotionsprojekt beenden konnte. Sie fragte nach meinen Kernthesen und dachte mit und dachte weiter. Ich staunte … und dann fragte sie: „Und wie regenerieren sie?“ Wieder eine sehr weise und umsichtige Frage. Ich stockte erst und erzählte dann, dass ich während einer Phase meiner Arbeit immer wieder gemalt habe und dabei ganz unterschiedliche Techniken ausprobiert habe. Ich bin immer zwischen meinem Schreibtisch und dem Tisch mit der Leinwand und den Farben hin- und hergependelt. Wenn beim Lesen und Schreiben nichts mehr weiterging, habe ich wieder ein paar Striche gemalt. Und dann ging es irgendwie auch am Schreibtisch weiter. Seit einigen Jahren habe ich das nun nicht mehr gemacht.

Heute klingelt es unerwartet an der Tür. Mein Mann geht an die Gegensprechanlage. Die alte Dame ist da und sagt nur kurz und knapp: „Ich stelle Ihrer Frau etwas vor die Tür.“ Und dann brachte mein Mann mir ein großes, in weißes Papier eingeschlagenes Geschenk hoch. Darauf klebte eine Karte, auf der stand: „Herzliche Glückwünsche zur Promotion mit einer weißen Leinwand, die bemalt werden will.“

Tatsächlich fühlt sich mein Leben „nach der Arbeit“, die mich so lange begleitet hat, gerade ein wenig wie eine weiße Leinwand an. Und bekanntlich kann das berühmte „weiße Blatt“ oder eben „die weiße Leinwand“ auch für Unbehagen sorgen. Aber ich will das Weiß noch etwas genießen und dann fange ich mit ein paar Klecksen an und werde schauen, was daraus entsteht.

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